Die vergangenen Wochen waren turbulent in der bundesdeutschen Politik. Als Bürger konnte man sich nur irritiert die Augen reiben, wie wenig es die politische Bühne in Berlin zu interessieren schien, wohin der Weg Deutschlands denn nun führen soll. Stattdessen las man viel über Nebelkerzen oder neoliberale Phrasendrescherei und es wurde kräftig darüber spekuliert, ob das Papier von Christian Lindner nun die Koalition sprengen sollte, könnte oder müsste.

In der Berliner Blase schien es vor allem wichtig zu sein festzustellen, ob das Papier zur Wirtschaftswende Deutschland von Christian Lindner und seinem Bundesministerium der Finanzen nun doch nur als interner Diskussionsbeitrag gedacht war oder als gezielter Affront gegen die linken Koalitionspartner.

Ich fand diese Diskussion – vorsichtig formuliert – ziemlich irritierend. Denn die Frage, wer die Koalition wie beenden wollte, ist letztlich völlig irrelevant. Entscheidend ist doch, was getan werden muss, um Deutschland wieder zu Wachstum zu verhelfen, und ob die Ideen aus diesem Papier dafür taugen.

Zu dieser eigentlichen Frage fand sich in deutschen Medien erschreckend wenig. Fast schien es, als hätte niemand das Papier wirklich gelesen.

Ich habe mich daher entschlossen, es selbst zu lesen.

Was stimmt denn nicht mit Deutschland?

Damit legen wir auch gleich los. Das Papier beginnt mit einer Bestandsanalyse. Die wichtigste These ist, dass Deutschlands Wachstumsschwäche zwar auch auf äußere Faktoren zurückzuführen ist, aber vor allem auf strukturelle Herausforderungen, Versäumnisse der Vergangenheit und politisch festgelegte Rahmenbedingungen.

Dazu gehören:

  • Geringes Produktivitätswachstum durch ein Regulierungs- und Bürokratiedickicht.
  • Geringes Arbeitsvolumen durch den Austritt vieler Baby-Boomer, die im internationalen Vergleich niedrige Zahl an effektiven Arbeitsstunden je Beschäftigtem und geschwächte Arbeitsanreize. Kurz gesagt: Wir werden weniger und haben keine Lust zu arbeiten.
  • Sonderweg beim Klimaschutz, da Deutschland bereits 2045 und unter Verzicht auf Kernenergie Klimaneutralität anstrebt. Das bedeutet, dass Deutschland fünf Jahre früher als die EU klimaneutral werden will, wodurch die anderen EU-Länder langsamer vorgehen können, da Deutschland für sie mit einspart. Das Papier führt später aus, dass dieser Sonderweg dem Klima unterm Strich nichts bringt, dafür aber die deutsche Industrie einem weiteren Wettbewerbsnachteil innerhalb der EU aussetzt. Das klingt nachvollziehbar.
  • Hoher Investitionsstau, denn notwendige Erhaltungs- und Modernisierungsinvestitionen wurden … für die Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats zurückgestellt. Konkret waren Infrastruktur, Digitalisierung und Bundeswehr unterfinanziert. Das Papier bezieht sich dabei wohl vor allem auf die 16 Merkeljahre, in denen wenig investiert, aber viel konsumiert bzw. umverteilt wurde.
  • Fragmentierung der Weltwirtschaft, denn geoökonomische Faktoren und protektionistische Reaktionen belasten die…deutsche Volkswirtschaft. Sicherlich eine der politisch unstrittigsten Erkenntnisse, obwohl diese Rückabwicklung der Globalisierung einigen Politikern bei Rot und Grün auch ganz recht sein dürfte.

Zusammengefasst wird festgestellt, dass dank niedriger Zinsen, einer demografischen Atempause und vorteilhafter externer Faktoren all diese Probleme lange verschleiert werden konnten.

Hier greift das Papier nach meinem Dafürhalten etwas zu kurz, denn die niedrigen Zinsen waren sicher nicht der einzige Grund, warum diese jahrzehntelange Irrfahrt so lange gutgehen konnte.

Dazu kam auch, dass Deutschland – anders als viele seiner Partner – ohne Rücksicht auf sicherheitspolitische Konsequenzen die eigene Wirtschaft an die Regime in China und Russland gebunden hat und dazu den amerikanischen Schutz missbrauchte, um sich eine hunderte Milliarden schwere Friedensdividende zu gönnen. Um hier den Economist zu zitieren: Deutschland ist unable to defend itself without America, struggling to grow without exporting to China, relying on Russian gas to keep its industry going.

Dennoch ist es eine insgesamt solide Zusammenfassung der Lage. Zugegeben, die Feststellung, dass Deutschland zu viel konsumiert und nicht investiert hat, dürfte sicherlich viele in der SPD abstoßen – waren sie doch stark für das Konsumieren zuständig in den Merkel-Jahren, insbesondere mit den gewaltigen Umverteilungen aus dem Haushalt in die Rente.

Der Klimaschutz Punkt dürfte sicher dazu geführt haben, dass an dieser Stelle manch Grüner und möglicherweise auch viele Hauptstadtjournalisten aufgehört haben weiter zu lesen, war die Schlagzeile doch schon entdeckt. Das ist natürlich nur so eine Theorie von mir.

It’s the Schuldenbremse, stupid

Die FDP scheint die letzte deutsche Partei zu sein, die ausufernde Schulden immer noch für eine schlechte Idee hält.

Aber die Schuldenbremse ist kein Schuldenverbot. Ich war erschüttert, wie viele Journalisten den Schlamassel falsch darstellten, als wäre die Diskussion im Ampelkrach gewesen: Scholz will 15 Mrd. Schulden machen, Lindner keine. Das Papier geht darauf zwar nicht ein (vermutlich hielt man im Ministerium solch Offensichtliches für allgemein bekannt), aber für den Haushaltsentwurf 2025 war eine Neuverschuldung des Bundes von gigantischen 51,3 Mrd. bereits vorgesehen – was die Schuldenbremse eben auch zulässt. Die eigentliche Diskussion drehte sich lediglich darum, ob es noch mehr sein könnte, also 66 Mrd. oder eben “nur” 51 Mrd.

Über 51 Mrd. reichen offenbar nicht jedem, weshalb die meisten demokratischen Parteien die Schuldenbremse lockern wollen: Die SPD und die Grünen umschreiben ihren Wunsch nach mehr Schulden lieber als reformieren, und die Union möchte bisher nur den Ländern mehr Schulden ermöglichen. Die SPD versucht dabei das Kunststück zu vollbringen, mehr Schulden aufzunehmen und dies gleichzeitig als gerechter für künftige Generationen zu verkaufen.

Zurück zum Papier: Es betont Deutschlands Rolle als Stabilitätsanker der Eurozone in einem ohnehin angespannten fiskalischen Umfeld. Dieser Aspekt wird in der Öffentlichkeit zu wenig beachtet – neben den üblichen Argumenten gegen Staatsschulden wie Generationengerechtigkeit, Zinslast und Währungsstabilität. Wenn selbst Deutschland bei den Staatsschulden die Zügel schleifen lässt, verlieren vernünftige, nachhaltig argumentierende Politiker in Europa ihre Glaubwürdigkeit. Wir erinnern uns: Die Eurokrise von 2009 war eine Staatsschuldenkrise, die weitgehend auf die Schröderjahre zurückgeht, als Deutschland mit Frankreich den Europäischen Stabilitätspakt aufweichte, um selbst mehr Schulden machen zu können.

Deutschlands Vorreiterrolle wird zwar oft überstrapaziert, um unsinnige Entscheidungen zu rechtfertigen, aber hier spielen wir tatsächlich mit dem Feuer. Wenn alle Euroländer nach unserem Vorbild noch eine Schippe drauflegen, dürften unsere Währung und damit unser Wohlstand gefährdet sein.

Neben der Schuldenbremse weist das Papier auch noch darauf hin, dass es schon noch europäische Regeln gibt, die Deutschland einhalten sollte. Ich halte das leider für kein stichhaltiges Argument mehr, denn seien wir ehrlich: Keine Kommission wird Deutschland zur Einhaltung zwingen, wenn sie das nicht einmal bei Italien und Frankreich schafft. Das Vorbildargument wiegt hier schwerer. Kaum ein Land profitiert so vom Euro, und kaum eines wäre von seinem Scheitern so stark betroffen. Da die Deutschen das Sparbuch so sehr schätzen, hätte eine Hyperinflation dazu besonders verheerende soziale Folgen.

Der versteinerte Haushalt

Das Papier widmet sich nun dem Problem der hohen konsumptiven Ausgaben, beginnend mit den steigenden Kosten der Alterung. Dabei wird die Versteinerung des Haushalts befürchtet – also immer höhere Steuermittel, die für die Umverteilung aufgewendet werden müssen. Das Papier mahnt an, die Ausgaben zu priorisieren. Zum Verständnis: Im Haushaltsentwurf 2025 waren bereits 121 Milliarden Euro Zuschuss für die Rentenversicherung eingeplant. Das ist ungefähr das Sechsfache dessen, was in Bildung und Forschung investiert werden sollte. Dies verdeutlicht die enorme Dimension des Problems.

Eigentlich ist es ja eine Selbstverständlichkeit, dass man seine Ausgaben priorisieren muss. Jeder von uns kennt das, sowohl privat als auch im Beruf. Ich finde es immer wieder faszinierend, dass so viele Politiker und Journalisten glauben, dass man durch Schulden quasi ewig ohne Prioritäten auskommen könnte. Gerade der Kanzler und seine SPD lassen sich gerne damit zitieren, dass Priorisierung der Ausgaben geradezu unverschämt sei – sie verwenden als Synonym für das Wort Priorisieren allerdings lieber den Begriff “gegeneinander ausspielen”.

Nun ja, ich gebe zu, dass auch ich den nächsten Urlaub, die Stromrechnung und den neuen Computer nicht gerne “gegeneinander ausspielen möchte”, aber was soll man machen…

Wir denken in zwei Richtungen

Jetzt wird es im weiteren verlauf des Papiers etwas theoretischer, denn hier werden die zwei klassischen Denkschulen der Wirtschaftsordnung gegenübergestellt:

  • Planwirtschaftliche Steuerung
  • Ordnungspolitische Steuerung

Das Thema ist so alt wie unsere Republik. Wir Deutschen sind eines der wenigen Völker, das den Sozialismus zweimal ausprobiert hat – einmal in Form des Nationalsozialismus und dann mit dem Sozialismus der DDR. In der BRD dauerte es immerhin noch bis 1959, als die SPD im Godesberger Programm die Hoffnung begrub, es ein drittes Mal probieren zu dürfen. Zugegeben, ganz ist die Hoffnung in der SPD nie gestorben, 2019 hat der damalige Generalsekretär der SPD es zumindest noch mal versucht – jetzt ganz modern mit dem Wortspiel “Demokratischer Sozialismus”, als ob so etwas möglich wäre…

So oder so stand unsere ordoliberale Wirtschaftsordnung immer unter Druck und konnte sich wahrscheinlich nur durchsetzen dank der Bezeichnung Soziale Marktwirtschaft – was den staatsgläubigen Deutschen wohl besser zu verkaufen war.

Zurück zum Papier: Hier wird für Team Planwirtschaft Vertikale Industriepolitik durch staatliche Feinsteuerung über kreditfinanzierte Subventionen und selektive Regulierungen auf den Platz geschickt und für Team Marktwirtschaft die Marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch umfassende Verbesserungen des Ordnungsrahmens.

Hier versucht das Papier auf einige Probleme des planwirtschaftlichen Ansatzes hinzuweisen:

  • Wirtschaftliche Entwicklung wird (nicht immer konsistenten) politischen Zielen untergeordnet. Kurz gesagt: Parteitage ändern gerne ihre Meinung, Politiker auch, die öffentliche Meinung sowieso – und wer an der Macht ist, ändert sich auch. Wirtschaft braucht aber Planungssicherheit, und die ist bei diesem Ansatz kaum vorhanden.
  • Vertikale Industriepolitik konzentriert sich traditionell auf größere Unternehmen, vernachlässigt hingegen den Mittelstand, das Handwerk und insbesondere neue und junge Unternehmen. Das sehen wir immer wieder. Große Unternehmen haben viele Lobbyisten, mächtige Gewerkschafter und können die Öffentlichkeit mit drohenden Arbeitsplatzverlusten schockieren. Deswegen ist die Politik oft bereit, 30.000 Arbeitsplätze im Mittelstand zu opfern, um 10.000 Arbeitsplätze bei einem Großkonzern medienwirksam zu retten.
  • Mit Regulierungsdichte und Bürokratiekosten schwächt sie den Wettbewerb, da Jungunternehmen diese Regulierungs- und Bürokratiekosten nicht tragen können. Kurz gesagt: Viel Bürokratie hilft den Alteingesessenen und den Großenkonzernen. Ein gutes Beispiel ist die Datenschutzgrundverordnung, die von Lobbyisten gerne als Knebel für amerikanische Techkonzerne verkauft wird, von diesen aber begrüßt wird, da sie europäische (Startup-)Konkurrenz fernhält. Eine wasserdichte Datenschutzerklärung ist für einen Billionen-Konzern kaum teurer als für einen kleinen Selbstständigen und damit ist solche Bürokratie ein Wettbewerbsvorteil für den Großkonzern. Der Selbstständige schwebt zudem ständig in der Gefahr, abgemahnt zu werden, da eine vollständige Absicherung fast unmöglich ist – was der Billionen-Konzern kaum fürchten muss, da Abmahnanwälte sich lieber die leichtere Startup-Beute suchen.
  • Mit den teuren Subventionen (so ein Großkonzern verlangt gerne mal ein paar Milliarden, damit der Kanzler pünktlich zur Wahl mit aufs Spatenstich-Foto darf) sind natürlich auch die Staatsfinanzen in Gefahr.
  • Technologien und Zeitgeist entwickeln sich permanent weiter, sodass … Intervention meist bei ihrer Umsetzung schon veraltet sind. Anders gesagt: Unternehmen handeln schneller als Parteitage. Das lässt sich in zahllosen, heute amüsant wirkenden Geschichten zu den Fünfjahresplänen der DDR nachlesen.
  • Unternehmen investieren opportunistisch, um von kurzfristiger Förderung zu profitieren, entwickeln ihre Strukturen aber letztlich am Markt vorbei. Dafür müssen wir nur auf die deutsche Solarindustrie schauen…

Für Team Marktwirtschaft wird festgestellt, dass die obigen Probleme hier nicht bestehen. Allerdings gibt das Papier zu, dass der Ansatz den Erwartungen der politischen Öffentlichkeit nach schnellen Lösungen, einem Pakt oder einem Masterplan nicht wirklich gerecht wird. Kurz gesagt: Die Wirtschaft von der Leine zu lassen, damit sie tut, was sie am besten kann – Wohlstand schaffen –, bringt einen Kanzler nicht zum Spatenstich in die Zeitung.

Leitenden Angestellten börsennotierter Unternehmen wird oft vorgeworfen, nur kurzfristig zu handeln, um den Aktienkurs in ihrer Amtszeit hochzutreiben. Politiker sind mit 4–5 Jahren Wahlperiode jedoch typischerweise noch kürzer im Amt als ein CEO und noch stärker auf gute Presse angewiesen, um ihren Job zu behalten. Dazu sind ihre Erfolge bzw. Misserfolge empirisch schwerer zu belegen. Die Regierung Merkel hat 16 Jahre lang keine nennenswerte Reform zustande gebracht und kam damit fast bis zum Schluss durch, weil es so lange dauerte, bis die Konsequenzen die Bürger erreichten. Die Regierung Schröder dagegen setzte mutige Reformen um und verlor dafür ihr Amt. Es ist der Treppenwitz der Geschichte, dass gerade diese Reformen Angela Merkel so lange im Amt hielten, während das Totalversagen der Union in diesen 16 Jahren die Ampel durch Reform- und Investitionsstau zu einem Himmelfahrtskommando machte – und sie letztlich daran auch scheiterte. Politiker sein stelle ich mir ziemlich frustrierend vor…

So wird es gemacht

Jetzt wird es konkret: Der Minister und sein damaliges Ministerium machen konkrete Vorschläge:

  • Ein sofortiges Moratorium zum Stopp aller neuen Regulierungen. Dies wird zwar seit Jahrzenten gefordert, wurde aber nie umgesetzt. Konkret genannt werden das Tariftreuegesetz, das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Entgelttransparenzgesetz, das Beschäftigtendatengesetz und die arbeitgeberfinanzierte Familienstartzeit. Diese sollen entweder ganz entfallen oder, wo dies nicht möglich ist, so ausgestaltet sein, dass Bürokratie und Regulierung durch das Vorhaben sinken und keinesfalls steigen. Ein sinnvoller Ansatz, auch wenn mehr konkrete Beispiele wünschenswert gewesen wären.
  • Erleichterungen bei den Nachweis- und Berichtspflichten des Green Deal. Dies betrifft hauptsächlich EU-Regelungen und zielt darauf ab, Deutschlands Position in Brüssel stärker auf Bürokratieabbau auszurichten.
  • Abschaffung des Solidaritätszuschlags und Senkung der Körperschaftsteuer. Dieser Punkt wird in den Medien oft als “Reiche entlasten” dargestellt. Dabei wird übersehen, dass neben Gutverdienern vor allem Unternehmen den Soli vollständig zahlen müssen. Erstaunlich ist, dass die SPD als ehemalige Arbeiterpartei diesen Aspekt gerne unterschlägt – und die Presse dabei mitzieht. Deutschland hat eine der höchsten Unternehmenssteuern weltweit, ebenso wie bei den Steuern für Arbeitnehmer. Der entscheidende Unterschied: Während Arbeitnehmer nicht so einfach wegziehen können (auch wenn viele gut ausgebildete es dennoch tun), können Unternehmen ihre Investitionen ins Ausland verlagern oder Deutschland von vornherein meiden. Genau das passiert.
  • Ersetzen der nationalen durch die europäischen Klimaziele. Im europäischen Emissionshandel zählt am Ende nur das Gesamtergebnis. Wenn ein Land schneller CO₂ einspart, werden andere entsprechend langsamer vorgehen. Das Papier betont diesen simplen Zusammenhang: Das Klima profitiert nicht, während Deutschlands Industrie geschädigt wird. Das Papier fordert zudem, nicht die Rolle eines Vorreiters, sondern die eines Vorbilds anzustreben. Ich sehe das ähnlich. Deutschlands Energiewende ist derart stümperhaft geplant und umgesetzt, dass sie weltweit als abschreckendes Beispiel für Klimaschutz dient. Nach dem Atomausstieg, der der globalen Atomindustrie mächtig Auftrieb gab, da wir dessen wirtschaftliche Schäden so eindrucksvoll demonstriert haben, setzen wir diesen Kurs munter fort. Statt der Wirtschaft Freiräume für innovative Lösungen zu geben, folgen wir ideologischen Vorgaben, die dem Klima durch ihre abschreckende Vorbildfunktion mehr schaden als nützen. Deutschlands Klimaziele sind nicht nur zu wenig ambitioniert – ihre planwirtschaftliche, innovationsfeindliche Umsetzung verschlimmert die Situation zusätzlich. Als überzeugter Klimaschützer frustriert es mich immer wieder, dass die linken Planwirtschaftler in Deutschland das Thema Klima- und Umweltschutz für sich vereinnahmt haben.
  • Das Papier fordert auch den Ausstieg aus der Subventionierung Erneuerbarer Energie und Anpassung der Netzausbaupläne. Hier zeigt sich wieder das Problem der Planwirtschaft und ineffizienter Subventionen. Stattdessen wird für den Emissionshandel plädiert – die Wirtschaft soll selbst die effizientesten Lösungen finden, was sie besser kann als Parteitage. Das Papier kritisiert auch, dass per Parteitagsbeschluss nicht nur bestimmte Technologien zu Subventionschampions erklärt, sondern andere komplett verboten wurden. Daher die Forderung nach Ermöglichung des Einsatzes der vollen Bandbreite an Technologien, einschließlich Carbon Capture and Storage (CCS) zur Speicherung von Klimagasen. Klingt sinnvoll.

Wir sollten mal wieder arbeiten…

Nun kommen wir zu den Arbeitnehmern und denjenigen, die nicht arbeiten wollen oder können. Beginnen wir mit dem Bürgergeld: Das Zusammenspiel von Bürgergeld, Kosten der Unterkunft, Wohngeld und Kinderzuschlag führt bei vielen Haushaltskonstellationen dazu, dass sich die Aufnahme oder Ausweitung von Arbeit monetär nicht lohnt.. Interessant ist das deshalb, weil das Papier aus einem FDP-geführten Haus kommt – derselben FDP, die 2021 die Union heftig kritisierte, als diese das Bürgergeld im Bundesrat stoppen wollte. Nun ja, Meinungen können sich ändern…das muss man auch der FDP Spitze zugestehen.

Die Sozialleistungen in Deutschland sind komplex und für Außenstehende schwer zu durchschauen – zum Glück war ich selbst noch nie darauf angewiesen. Allerdings berechne ich gelegentlich, was mir theoretisch zustehen würde um dafür ein besseres Gefühl zu bekommen. Als die Ampel das Bürgergeld einführte, errechnete die Caritas für mich und meine Familie etwas unter 4.000 Euro netto monatlich inklusive Kindergeld. Bei einer aktuellen Neuberechnung zu diesem Artikel komme ich schon auf 4.500 Euro. Diese Berechnung basiert auf dem Mietspiegel meiner Heimatstadt Waiblingen, wobei ich bezweifle, dass man für das Geld tatsächlich eine Wohnung findet. Realistisch betrachtet nähern wir uns eher den 5.000 Euro monatlich. Diese hohe Summe ergibt sich aus unserer sechsköpfigen Familie, dem teuren Wohnort und der überraschenden Tatsache, dass mir laut Caritas 120 Quadratmeter Wohnfläche als Existenzminimum zustehen. Meine Frau und ich – beide Gutverdiener – haben unsere 124-Quadratmeter-Wohnung stets als Privileg betrachtet. Offenbar eine Fehleinschätzung, wir sind nur einen Hauch über dem “Existenzminimum”.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die öffentliche Debatte um die Bürgergeld-Regelsätze zu kurz greift. Der kritische Punkt liegt eben auch bei der Übernahme der Wohn- und Nebenkosten: Während von Arbeitnehmern erwartet wird, aus teuren Städten wegzuziehen, wenn sie sich das Leben dort nicht mehr leisten können, kann dies Bürgergeldempfängern nicht zugemutet werden. Eine erstaunliche Logik.

Bei den Arbeitnehmern sieht das Papier eine Umstellung von der täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit vor. Das begrüße ich. In meinen früheren 15 Jahren als Angestellter habe ich mich nie wirklich an die Arbeitszeitregelung gehalten – wie auch viele meiner Kollegen nicht. Der Grund war nicht etwa gelebter Anarchismus, sondern dass die Regelungen einfach nicht zur Realität moderner Computerarbeitsplätze passen.

Dann folgt die dauerhafte Vermeidung der Kalten Progression. Gemeint sind die automatischen Steuererhöhungen, die wir in Deutschland Jahr für Jahr hinnehmen müssen – ein politisches Schauspiel, damit uns Bürgern jährlich medienwirksam eine Steuererleichterung “geschenkt” werden kann. Das Papier schlägt eine Automatisierung vor, ähnlich wie bei der Sozialversicherung. Ein vernünftiger Vorschlag – dagegen kann nur sein, wer unbedingt jährlich Schlagzeilen mit einer frischen Steuererleichterung machen will.

Schließlich geht es an die neue SPD-Kernwählerschaft, die Rentner: Eindämmung des Anstiegs der Sozialversicherungsbeiträge zur Sicherung der Generationengerechtigkeit. Eine schwammige Formulierung, die schwammig bleibt – selbst ein FDP-Minister wagt sich nicht wirklich an die Rentner heran. Im Kern geht es darum, freiwillige Verlängerungen der Lebensarbeitszeit zu erleichtern. Dazu der bescheidene Vorschlag: Die Abschläge bei früherem Renteneintritt sollen den Zuschlägen bei längerem Arbeiten entsprechen. Wenig ambitioniert, aber in einem der ältesten Länder der Welt kann man von keinem Politiker erwarten, an den Renten zu rühren. Trotzdem wurden selbst diese vorsichtigen Vorschläge vom Kanzler mit den Worten …Rentenkürzungen für alle Rentnerinnen und Rentner. Das ist nicht anständig, das ist nicht gerecht… abgeschmettert. Tja, für Generationengerechtigkeit einzustehen macht echt keinen Spaß.

Fazit

Der Rest des Papiers richtet sich hauptsächlich an Haushaltspolitiker. Die Vorschläge werden im Kontext des Haushalts 2025 neu aufbereitet. Die Regierung stand ja seinerzeit vor zwei Kernproblemen: Deutschlands kritische Wirtschaftslage als neuer kranker Mann Europas und eben die Frage des Haushalts 2025 – konkret, ob 51,3 Milliarden Euro neue Schulden ausreichen. Ich werde diesen Zahlenteil nicht weiter erörtern.

Wie man aber gemerkt hat, unterstütze ich die wesentlichen Punkte des politischen Teils. Allerdings hätte ich mir an manchen Stellen konkretere Maßnahmen gewünscht, besonders beim Bürokratieabbau und der Generationengerechtigkeit.

Aus politischer Sicht sehe ich nicht, warum das Papier als neue Provokation verstanden wird. Es vertritt klassische ordoliberale Positionen – genau das, wofür die FDP steht und gewählt wurde. Dass diese Positionen im Regierungshandeln zu wenig sichtbar waren, zeigen die Umfragen und Landtagswahlen. Von allen Ampelparteien hat die FDP den stärksten Wählerschwund erlitten – sicher nicht, weil sie zu wenig planwirtschaftlich agierte.

Dass das Team Planwirtschaft von SPD und Grünen dies nicht mittragen würde, war aber ebenfalls absehbar. Das Ende der Koalition war folgerichtig – die Wähler aller drei Parteien waren mit dem Kurs unzufrieden, wie auch die Verluste der SPD und, in geringerem Maße, der Grünen zeigen.

Immerhin ist jetzt wieder klarer erkennbar, wofür die FDP steht – was 2021/22 noch deutlich weniger der Fall war. Immerhin eine kleine Stimme, die jetzt in Berlin wieder für die ordoliberale Wirtschaftsordnung eintritt. Das ist sicher gut für unsere Demokratie und den Pluralismus der weiteren Debatte.